Friede, Freude, tandläkare [resp. Schock].

Manchmal, nur manchmal, werde ich das Gefühl nicht los, das Schicksal will es nicht so mit mir. Oder ist gar gegen mich. Nun meine ich das nicht unbedingt, wenn ich auf Reisen bin. Sicher, am Sonntagmorgen in Berlin beim Frühstück im >>> Kuchenrausch, machte sich ein Zahn bemerkbar. Sachte, dennoch ziehend, zuweilen pulsierend. Auf einer Skala von 1 bis 10, wobei eins kein Schmerz und zehn völliger Krawall im Gesicht darstellt, war ich bei einer sachten Zwei. Und bei genauerer Untersuchung des Schlachtfeldes, äußerlich, war auch eine kleine Wölbung der Wange zu erkennen, allerdings nur bei genauester Inspektion. Es gab Hoffnung. Und diese lebte auch noch den ganzen Abend hindurch, denn ohne besondere Vorkommnisse, weder beim Flug noch beim Zahn, landete ich in Stockholm, und war eigentlich frohen Mutes, am Montag in der Schule aufzuschlagen.

Frankfurt Flughafen - SAS-Flieger
In Frankfurt war noch alles in Ordnung. SAS-Flieger nach Stockholm. >>> Instagram

Im Laufe der Nacht wurde aus der unauffälligen Wölbung an der Wange ein ausgesprochen stattlich anzusehender Hügel in Querlage, die obengenannte Schmerzskala bewegte sich auf die Zehn zu. Der Blick in den Spiegel um 5.30 Uhr – es ist immer wieder erstaunlich, wie elastisch doch die menschliche Haut ist – in Zusammenarbeit mit dem Schmerzzentrum im Gehirn ließ meine Träume platzen, an einen Dienst in der Schule war nicht mehr zu denken. Fies. Ich hatte irgendwie anders geplant; erst der Dienst und dann der Zahnarzt (Freude über Freude, bei uns auch tandläkare genannt).

Und so begab es sich, daß ich dieses Schuljahr das erste mal fehlte. Die dicke Wange hätte mir sicher keine Probleme bereitet, damit wäre ich wahrscheinlich noch dreimal vor meine Klassen getreten. Aber wenn das Pochen und Ziehen so langsam das Gesicht hochkriecht, schon fast sadistisch genüßlich, um dann schlußendlich am Ohr anzukommen, natürlich die restlichen Gesichtspartien nicht aussparend, dann muß auch ich die Segel streichen. Spontan einen „akuten“ Termin gemacht, am selben Tag bekommen, hingegangen, ausgehalten, die arme Zahnärztin malträtiert, alte Füllung raus, ein Huch (die Füllung war wohl nicht mehr ganz dicht), Wurzelschaber rein, hoch und runter und gedreht und gebogen, meinerseits hoch und runter auf dem Stuhl ebenso, Füllung rauf, nächster Termin in zwei Wochen.

Den Dienstag auch noch zu Hause verbracht. Die Wange sieht inzwischen nur noch nach einem Hügelchen in Querlage aus, wir sind auf dem Weg. Mittwoch, heute, ist eh frei, der zweite Schock wird mit der Lohnabrechnung ins Haus flattern. Der erste Krankheitstag in Schweden ist ein Karenztag ohne Lohn, der zweite dann, Freude über Freude, mit 80 Prozent.

Der erste und immer noch tiefsitzende Schock allerdings traf mich nach der Behandlung. Als quasi die Rechnung kam. Einmal akute Wurzelbehandlung: 1.295,- SEK, was bei heutigem Wechselkurs 139,85 € entspricht. Und die provisorische Füllung ist nicht aus Edelmetall oder Meißner Porzellan.

Nach zehn Jahren in Schweden bin ich noch immer nicht so ganz im Gesundheitssystem angekommen. Sicher, die eine oder andere Untersuchung verlangt Gebühren, 150 SEK beim Hausarzt und so um die 700 SEK für eine komplette Untersuchung beim Zahnarzt. Daß aber die Behandlung dann doch so deutlich tiefe Einschläge auf dem Konto hinterläßt, erzeugt einfach nur Freude über Freude.

Ich muß nochmal den sogenannten Höchstsatz untersuchen, ab eine bestimmten Summe soll der Staat mit 50 Prozent einspringen. Aber solange ich dahin nicht vorgedrungen bin, habe ich mir selbst ein Flugbuchungsverbot auferlegt. Was natürlich nicht Freude bereitet. So insgeheim ist es mir aber den Einsatz wert, wenn ich den Wurzelkrawall loswerde …

Freude über Freude!

Wie immer. Panik. Wie immer.

Es ist soweit. Und ich kriege die Krise. In sechs Wochen werden die Neunten entlassen, ins richtige Leben. Schwups, hinaus. Die Grundschule endet (in Schweden in der neunten Klasse), das Gymnasium (für alle) beginnt.

Und just sechs Wochen vor diesem Wechsel kommt er daher, der Chef. Für die Grundschulen der Sigtuna kommun. Und kriegt die Krise. Weil unsere Schüler nicht der Statistik entsprechen. Zu oft ein F (F entspricht einer Sechs in Deutschland).

Statistik. Danke.

Und nun soll es Renke in Deutsch richten. Gerne. Und wie?

Was mich an der schwedischen Schule angeht, stört, verstört: Die Schüler müssen für ihre Noten kaum etwas tun! Da sein. Atmen. Schnappen. Augen auf. Danke.

Gegenfrage: Wie soll man eine Schülerin oder einen Schüler im mündlichen Teil, Benotungsfeld, beurteilen, wenn nichts kommt. Wenn die Lippen sich nicht bewegen, die Zunge keine Laute hervorbringt, und der Rest des Kauapparates versagt, wenn man sprechen soll?

Die Statistik muß stimmen.

Wieso spreche ich eigentlich Schwedisch?

Noch bin ich nicht fertig mit dem Lehrerdasein in Schweden, noch nicht. Und wenn der oberste Chef meint, er müsse die Statistik frisieren, dann soll er dem frönen. Aber eine Schülerin oder einen Schüler in Richtung Gymnasium zu entlassen, im Fach Deutsch, mit einer Note „bestanden“, die eben nicht der Wirklichkeit entspricht, ist doch ungerecht? Fahrlässig? Unverantwortlich? Eine Schülerin oder einen Schüler mit einer falschen Note wissentlich gegen die Wand fahren zu lassen? Das Fach wird doch auf dem Gymnasium nicht einfacher. Nicht mal in  der Statistik. Oder doch?

Liegt es einfach daran, daß Schulen in Schweden ihr Geld in Bezug auf die Anzahl der Schüler bekommen?

Und ich habe nichts zu tun. Sagen viele. Lehrer. Ferien. Ja. Nein. Feierabend?

Nun sitze ich hier, um kurz nach zehn, abends. Plane für den einen oder anderen eine extra Unterrichtsstunde, eine weitere Prüfung. Eine weitere Gelegenheit. Hat man gelernt? Die Hausaufgaben vorbereitet? Zugehört?

Statistik. Dilemma. Panik.

Die Tage werden länger, die Sonne begleitet uns. Morgens, abends, nachts. Die Rechnung für die langen Winterabende. Und für die Überstunden. Und für die Schüler. Und deren Zukunft.

Und, trotz der Schwierigkeiten mit deutschen Sprache, ein sprachlicher Höhepunkt: Eine exklusive Führung auf Deutsch im >>> Vasamuseum. Vorgeschlagen, schüchtern, von mir; gefordert von meinen Schülern.

Jenseits von Nummern und Zahlen in irgendwelchen Tabellen.

[Stockholmer] Telegramm 20

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Nein, Schweden steht noch. Und trotz einer partiellen Sonnenfinsternis (was auf Schwedisch partiell solförmörkelse heißt, habe ich zumindest gelernt) ging auch bei uns das Leben weiter. Zwar waren meine Schüler im Fach Deutsch der Klasse sieben gestern der Meinung, alle 5 Minuten zum Fenster huschen zu müssen (während wir „Türkisch für Anfänger“ guckten), allerdings bin ich diesmal über meinen eigenen Schatten gesprungen und habe angesichts der historischen Bedeutung für die Schüler Gnade walten lassen. Ich erinnerte mich an meine eigene, erste richtige Sonnenfinsternis 1999 und beschloß, den Schülern dieses Erlebnis partiell zu Gute kommen zu lassen. Viel Glück hatten wir leider aber alle nicht, weder der Herr Lehrer noch die Schüler, dicke Wolken ließen ein ungetrübtes Erlebnis einfach nicht zu. Dennoch war ein schemenhaftes Bild durch die Wolken erkennbar, und eine Stunde später als in Berlin war zumindest die rechte Hälfte der Sonne, leicht nach unten geneigt, bedeckt. Und immerhin: die Schüler sind nach einer Stunde Unterricht aus dem Klassenzimmer hinaus und haben das Wort „Sonnenfinsternis“ fröhlich vor sich hergeträllert. Was irgendwie auf mich zurückfiel. Wie immer.

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Nach fast schon sommerlichen Temperaturen ist der Winter zurück, eventuell auch nur partiell. Ich kann das nicht beurteilen, der Wetterdienst ist sich noch nicht einig, ob der heute Nacht gefallene Schnee uns weiterhin beehren soll oder gänzlich wieder verschwindet. Ich nehme an, daß meine Kollegen in der Schule mich am Montag dafür verantwortlich machen. Schließlich hatte ich sie ja vorgewarnt: Der Winter ist nicht vorbei!

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Ich habe vor zwei Wochen einen Kulturschock erlitten, als ich nichts ahnend auf den Webseiten des staatlichen Fernsehens nach einer Dokumentation suchte. Ich fand auch etwas zum Angucken, war aber geneigt, augenblicklich meine Koffer zu packen und gen Deutschland zu ziehen. Denn in Schweden liefen die Vorentscheidungen zum diesjährigen Eurovision Song Contest, und das wird in Schweden ja bekanntlich hysterisch-frenetisch begangen. Ich weiß gar nicht, wie viele Entscheidungssendungen und Zweite-Chance-Shows es gibt, aber daß ein Beitrag mit der Botschaft „Wir machen ein Groupie“ (und nicht ein Selfie, wie man auf Neudeutsch für ein selbst aufgenommenes Foto sagt) eventuell nach Wien weiterbefördert werden könnte, hat mir dann doch die Schuhe ausgezogen:

Irgendwie erinnerte mich der ganze Auftritt an Zlatko. Egal, der Beitrag ist Gott sei Dank im Finale am letzten Wochenende gnadenlos untergegangen und hatte keinerlei Chancen, Wien auch nur nahe zu kommen. Ich gebe an dieser Stelle zu, daß ich das Finale zumindest im Internet mitverfolgt habe. Und Schweden hat nun einen Beitrag, der für Frieden in den Schlagerdiskotheken des Landes sorgen sollte, auch wenn die Kritiken nicht abreißen, Teile wären abgeschrieben bzw. einem anderen international bekannten Song verdammt ähnlich. Aber das kann man dann ja notfalls den Anwälten überlassen! Wodurch sich allerdings das schwedische Staatsfernsehen hervorgetan hat, und dies wurde auch in Deutschland thematisiert, ist die Tatsache, daß die Finalsendung live in Gebärdensprache übersetzt wurde, und das nicht nur im Internetstream sondern auch auf dem Sender SVT24, dem Nachrichtensender des staatlichen Fernsehens. Tommy Krångh und sein gesamtes Team wurden in Schweden für ihren Einsatz während der Sendung hoch gelobt und waren tagelang Thema in den schwedischen Medien. Ein kleiner Eindruck gefällig? Das Siegerlied Schwedens mit Gebärdensprache:

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Es steht in Kürze wieder ein Ausflug gen Norddeutschland an! Der >>> 4. Föhr-Marathon hat am nächsten Wochenende einen großen Platz in meinem Kalender. Ich hoffe nur inständig, daß das Wetter mitspielt: ohne Winter, aber mit ein bißchen Wind. Im Moment sieht es nach Sonne und blauem Himmel aus. Und ausnahmsweise nehme ich mir einen Tag frei, was die Schüler mit Applaus zur Kenntnis genommen haben. Ich mußte mir in den letzten Wochen oft anhören: „Renke, wann wirst Du endlich mal krank? Wir hatten noch nie eine Freistunde in Deutsch!“

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Wir warten also auf den Frühling!